Die Reise - August 2003

Die Reise – August 2003

Gerechtigkeit schaffen – Agacaca


Eine rwandische Rechtstradition der Konfliktlösung soll den Völkermord bewältigen helfen.
Während des Genozids in Rwanda (April bis Juni 1994) und der Massaker gegen die Zivilbevölkerung wurden etwa 800.000 Zivilpersonen ermordet. Der Völkermord richtete sich gegen die Bevölkerungsgruppe der Tutsi, die nach der Ideologie der Täter ausgerottet werden sollte. Sie stellt die allergrößte Gruppe der Opfer und heute gibt es viele Menschen, die als einzige ihrer Familie überlebt haben.

Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden die Handlungen bezeichnet, durch die Mitglieder der Bevölkerungsgruppe der Hutu und der Twa getötet oder gefoltert wurden. Viele Menschen, die sich nicht an den Massakern beteiligen wollten, wurden ermordet, viele wurden auch zum Töten gezwungen.
Anfang Juli 1994 wurden die Massaker beendet und die Rwandische Patriotische Front (Front Patriotique Rwandais), die seit 1990 von Uganda aus operierte, übernahm die Macht. Der heutige Präsident Paul Kagame war der militärische Befehlshaber der Armee. Die FPR setzte sich besonders aus Rwandern der Bevölkerungsgruppe Tutsi zusammen, die aufgrund der Auseinandersetzungen ab 1959 (Sturz der Monarchie) und in der Folge der sechziger und siebziger Jahre in Rwanda verfolgt wurden.

In Rwanda hat sich seit 1994 eine neue Gesellschaft gebildet. Hunderttausende ehemalige Exilanten, die in Uganda, Burundi, im Zaire, etliche auch in den USA oder in Europa lebten, kehrten nach der Machtübernahme der FPR in ihr Heimatland zurück. 1994 waren mehrere Millionen Menschen in die Nachbarländer Rwandas geflüchtet. Die meisten kehrten nach der gewaltsamen Auflösung der Flüchtlingslager 1996 im damaligen Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo) zurück. In Rwanda herrscht heute eine wohl weltweit einmalige Situation: fast jede Person im Lande war in irgendeiner Form in den Genozid involviert, als Opfer, Täter, Beobachter der Massenmorde oder Flüchtling. Die Gesellschaft ist traumatisiert. Manchmal leben Täter neben Menschen, deren Familienangehörige sie ermordet haben. Es gibt sehr viele Waisenkinder und Witwen, deren Angehörige getötet wurden. Rwanda steht seit 1994 vor der fast nicht zu bewältigenden Aufgabe des physischen, psychischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus.

Wie geht eines der ärmsten Länder der Welt mit den Grausamkeiten des Völkermordes um? Gibt es einen Weg, die vielen Täter zu verurteilen, kann man nach der unfassbaren Gewalt Gerechtigkeit schaffen und wie kann man zur Versöhnung beitragen?
Viele Menschen wurden nach dem Genozid verhaftet, auch wenn nicht immer eindeutig war, ob sie an den Morden beteiligt waren oder nicht. So sind heute neben vermutlichen Mördern auch viele Unschuldige in den überfüllten Zellen der zahlreichen Gefängnisse in den Provinzen und in den Distrikten. Angesichts der heute noch etwa 85.000 inhaftierten Personen und der knappen Mittel ist eine Durchführung der Verfahren nach der regulären Rechtssprechung in angemessener Zeit nicht möglich. Die im Aufbau befindliche Justiz würde schätzungsweise ca. 300 Jahre benötigen, um alle Gerichtsverfahren durchzuführen.

„Die Wahrheit heilt“ steht auf riesigen Plakaten, die an vielen Ecken im Land am Straßenrand stehen. Die Regierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, Gerechtigkeit zu schaffen. Drei Instanzen sind geschaffen worden, um die Täter zu richten und die jahrelang in Rwanda herrschende Kultur der Straflosigkeit zu bekämpfen. Es ist der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen, der 1994 in Arusha im Nachbarland Tanzania eingerichtet wurde und vor dem die Planer und Organisatoren des Völkermords gerichtet werden, die 1994 ins Ausland geflohen sind. Die Schweizer Stiftung Hirondelle (Schwalbe) berichtet regelmäßig und sehr ausführlich über die dort geführten Prozesse. Die rwandische Justiz führt vor ordentlichen Gerichten Prozesse gegen Personen, die wegen Beteiligung am Genozid angeklagt sind. Bisher wurden ca. 3000 Verfahren durchgeführt.

Um die Verfahren für die vielen Gefangenen in einem vernünftigen Zeitrahmen durchführen zu können, hat Rwanda einen ungewöhnlichen Weg beschritten. Mit Hilfe des traditionellen Verfahrens »Agacaca«, das ein Instrument der Konfliktschlichtung ist, soll im Land wieder Gerechtigkeit geschaffen werden. »Agacaca« bedeutet in der nationalen Sprache Kinyarwanda »Rasen«. Es handelt sich um ein traditionelles Verfahren, um Streitigkeiten innerhalb einer Dorfgemeinschaft zu schlichten. Auf einem Rasen unter freiem Himmel diskutiert die Gemeinschaft die Probleme. Eine allgemein anerkannte und geschätzte Person leitet das Verfahren und ist Schlichter zwischen den Konfliktparteien. Früher ging es bei diesem Verfahren vorrangig darum, dass eine Person, die gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen und damit die Gemeinschaft verlassen hat, wieder in die Gemeinschaft integriert wird und für ihr Fehlverhalten Entschädigung leistet.
Das neu eingerichtete Agacaca-Verfahren ist eine Weiterentwicklung dieser traditionellen Konfliktschlichtung. Es dient nicht nur dazu, die Verfahren insgesamt zu beschleunigen, sondern vor allem dazu, Gerechtigkeit zu schaffen und soll, in dem die Wahrheit gesagt wird, zur Heilung der Gesellschaft beitragen.

Die deutsche Bundesregierung unterstützt durch die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) den Aufbau der rwandischen Justiz und auch die Durchführung der Agacaca-Verfahren. Eine Gruppe trifft den Rechtsanwalt Dieter Magsam (Berater der GTZ) und Ngamije M. Laurent, Mitarbeiter bei den »juridictions agacaca«, und sie erläutern uns die Vorgehensweise.
Einen ganzen Vormittag lang informiert uns M. Laurent umfassend über den aktuellen Stand der Einrichtung der partizipativen Verfahren, über die Organisation, die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Probleme beim Aufbau der Verfahren. Wir stellen zahlreiche Fragen besonders auch nach den Wirkungen und den Schwierigkeiten, die bei der Durchführung auftreten.



Ab Anfang Oktober 2001 waren alle Rwander aufgerufen, auf öffentlichen Versammlungen rund 260.000 Agacaca-Richter zu wählen. Nur im Konsens konnten die Richter gewählt werden, eine Gegenstimme reichte, um einen Kandidaten abzulehnen. Viele der Richter sind Lehrer oder Intellektuelle. Sie wurden in Schnellkursen ausgebildet und arbeiten ehrenamtlich.

Um unter den gegebenen Umständen Gerechtigkeit herzustellen, wurden die mutmaßlichen Täter in vier Kategorien eingeteilt. Unter die Kategorie 1 fallen mutmaßliche Planer, Organisatoren und Anstifter des Völkermords, ebenso Personen, die besonders brutaler Verbrechen oder sexueller Folter beschuldigt werden.
Zur Kategorie 2 gehören die Personen, die des Totschlags oder der Körperverletzung mit Todesfolge beschuldigt werden.
In die Kategorie 3 werden diejenigen eingeteilt, die ihren Opfern schwere Verletzungen zufügten, denen aber keine Tötungsabsicht bewiesen werden kann.
Kategorie 4 sind die Personen, die sich wegen Eigentumsdelikten zu verantworten haben. Bei den Agacaca Verfahren werden alle angehört, die eine Aussage machen wollen, alle, die irgendwelche Informationen über den Tathergang oder den Täter haben. Diese Aussagen sind wichtig, da die Anklage nicht auf Indizienbeweise aufbauen kann, sondern nur auf den Beobachtungen von Zeugen.

In der ersten Stufe der Agacaca Verfahren finden Anhörungen statt, die Angeklagten werden in die jeweilige Kategorie eingeteilt. Es werden Listen erstellt, in denen alle Angeklagten der vier Kategorien aufgeführt werden, die Zeugenaussagen werden den Beschuldigten zugeordnet. In der zweiten Stufe kommt es erst zum eigentlichen Verfahren, bei dem ein Urteil gefällt wird. Je nach Kategorie und Schwere des Verbrechens wird auf einer von vier Verwaltungsebenen das Verfahren eingeleitet.

1. Auf der Ebene der Zellen (Verwaltungseinheit):
Eine Zelle, die kleinste Verwaltungseinheit, besteht aus etwa 200 Familien. In einer Vollversammlung werden 19 Richter und Richterinnen gewählt, außerdem ein Organisationskomitee von 5 Personen, bestehend aus einem Präsidenten, 2 Vizepräsidenten und 2 Sekretären, die die Verhandlungen leiten. Die Richter jeder Zelle sollen Listen zu den Straftaten erstellen:
  1. eine Liste der Ermordeten aus der Zelle,
  2. eine Liste von Personen zugefügten Verletzungen und materiellen Schäden,
  3. eine Liste der Täter aus der Zelle,
  4. eine Liste der individuellen Akte pro Täter.
Auf dieser Basis werden Anklageschriften erstellt, die an die Organisatoren weitergeleitet werden. Die Daten sollen außerdem zentral erfasst, verglichen und mit den vorliegenden Geständnissen in Beziehung gesetzt werden. Auf der Ebene der Zellen werden ausschließlich Verbrechen der Kategorie 4 verhandelt. Sie werden mit Entschädigungsstrafen geahndet.

2. Auf der Ebene der Sektoren
Die Vollversammlungen der Zellen wählen fünfzig Vertreter in die Generalversammlungen der nächsthöheren Verwaltungsebene, die der Sektoren. Diese wählen wiederum die Richter und das Organisationskomitee. Verhandelt werden auf dieser Ebene die Verbrechen der Kategorie 3. Als Strafmaß im Falle einer Verurteilung sind bei Vorliegen eines Geständnisses 3-5 Jahre Haft vorgesehen, sonst eine Haftdauer von 5-7 Jahren. Die Strafen können in gemeinnützige Arbeit umgewandelt werden, wodurch sich die Haftzeit halbiert.

3. Auf der Ebene der Distrikte
Die Versammlungen der Agacaca-Gerichte auf dieser Ebene werden wiederum durch gewählte Vertreter aus der Sektorenebene gebildet. Hier werden die Verbrechen der 2. Kategorie verhandelt.

Die Sektorengerichte können Haftstrafen von 25 Jahren bis lebenslänglich verhängen.

Die Verfahren auf diesen drei unteren Ebenen können auch in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden.

4. Auf der Ebene der Provinzen
Die Gerichte werden nach dem bekannten Verfahren zusammengesetzt.

Auf der Provinzebene werden Berufungsverfahren verhandelt.

Die Verbrechen der Kategorie 1 werden vor ordentlichen Gerichten verhandelt. Der Gesetzgeber sieht ein Strafmaß von lebenslanger Haft oder Todesstrafe vor, das im Falle der Anerkennung eines Geständnisses auf 25 Jahre Haft bzw. lebenslange Haft reduziert wird.
Regelmäßig werden die Namen derjenigen, die der Verbrechen der Kategorie 1 verdächtigt werden, aktualisiert und im Amtsblatt publiziert. Es handelt sich um etwa 2.000 Personen.

Ungefähr 6.000 Kinder unter 14 Jahren waren jahrelang im Gefängnis, sie sind strafunmündig für alle Kategorien. 14-18jährige haben im Falle einer Verurteilung wegen Verbrechen der Kategorie 1 mit Haftstrafen von 10-20 Jahren zu rechnen.

Die Pilotphase des Agacaca-Verfahrens begann am 1. Juni 2002. Hier wurden pro Provinz Zellengerichte zusammengerufen, insgesamt 12. Die zweite Phase begann am 25. November 2002. In sämtlichen Zellen des Landes wurden 8214 Gerichte einberufen. Die dritte Phase, die Einberufung der Sektoren-, Distrikt- und Provinzgerichte steht noch aus.
Im Februar/März 2003 wurden etwa 20.000 Inhaftierte, die Strafen von 7-12 Jahren zu erwarten hatten, per Präsidentenerlass freigelassen, da sie die eventuell zu erwartenden Haftstrafen schon abgebüßt haben. 5.000 davon wurden allerdings kurz darauf wieder verhaftet, da ihnen schwere Verbrechen vorgeworfen werden.

Das Agacaca-Verfahren sieht sich schon in der Anfangsphase mit massiven Problemen konfrontiert: Beobachter bemängeln die mangelnde Kompetenz der Richter, die zum Teil kaum lesen und schreiben können. Nur wenige Intellektuelle beteiligen sich an den Verfahren. Die Angeklagten haben keine Verteidiger. Zudem ist eine Mindestanzahl von 100 Personen für eine Generalversammlung auf der Ebene der Zellen festgelegt, die zum Teil wegen mangelnder Beteiligung der Bevölkerung nicht erreicht wird, und dies trotz landesweiter Sensibilisierungs- und Mobilisierungskampagnen.
Der mangelnde Zuspruch mag sich auch aus der Kritik an der Tatsache ergeben, dass nur Verbrechen im Zusammenhang mit dem Völkermord 1994 verhandelt werden. Verbrechen im Bürgerkrieg, der ab Oktober 1990 zwischen der FPR und den Regierungstruppen des alten Regimes geführt wurde, werden bei den Verfahren ausgeblendet und nicht behandelt.
Es ist auch sehr schwierig, öffentlich gegen eine Person auszusagen, wenn man anschließend weiterhin auf dem gleichen Hügel wohnt. Viele Menschen haben Angst, dass hier weitere Konflikte geschürt und nicht gelöst werden. Auch Denunziationen sind nicht ausgeschlossen. So wird die öffentliche Beschuldigung, im Völkermord aktiv gewesen zu sein, von manchen auch genutzt, um sich das Vermögen anderer anzueignen oder aus Rache wegen früherer Konflikte. Die Möglichkeit, jemanden durch eine Aussage ins Gefängnis zu bringen, wird zum Teil zu politischen Zwecken missbraucht. Kritiker der Regierung werden häufig beschuldigt, am Völkermord beteiligt gewesen zu sein. Unliebsame Gegner werden so verhaftet und ausgeschaltet.

Welchen Zeugen kann man auch trauen? Viele Augenzeugen wurden ermordet oder sind ins Ausland geflohen. Viele Überlebende haben ihre Informationen aus zweiter Hand, da sie sich während der grausamen Geschehnisse versteckt hielten. Der bisherige Verlauf der Prozesse zeigt, dass die Rechtsfindung unter den gegebenen Umständen alles andere als leicht ist.

Agacaca ist trotz der Mängel ein positiv zu bewertendes Projekt, in das die gesamte Bevölkerung eingebunden wird, um Gerechtigkeit zu schaffen. Es ist vielleicht der einzige Weg, die Kultur der Straflosigkeit aufzuheben. Und es ist ein institutionelles Mittel zur Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse einer ganzen Gesellschaft. Jeder, der 1994 am Völkermord beteiligt war, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit angeklagt werden. Ein positives Gefühl für die Überlebenden.

Dieter Magsam und Laurent Ngamije beraten jetzt, nachdem die Agacaca Schlichtungsverfahren angelaufen sind, das rwandische Justizministerium bei der gesellschaftlich sehr wichtigen Aufgabe, eine funktionierende reguläre Justiz in Rwanda wieder aufzubauen. Dem Völkermord fielen besonders viele Intellektuelle zum Opfer, auch Richter und Rechtsanwälte. Das gesamte Rechtssystem brach während des Genozids und des Bürgerkriegs zusammen. Jetzt wird mit Hochdruck am Neuaufbau gearbeitet.

Das Nebeneinander von westlich orientierter Justiz und dem traditionell verwurzelten Agacaca-Verfahren kann unserer Ansicht nach ein guter Weg sein, gesellschaftliche Errungenschaften der westlichen Welt zu nutzen, gleichzeitig aber die eigene kulturelle Identität und gesellschaftliche Struktur zu erhalten, respektive wieder einzuführen. Rwanda sucht seinen eigenen Weg in eine sicherere und gerechtere Zukunft. Ob dies gelingt, ist eine offene Frage. Wir hoffen es.

Literatur:
Alison Des Forges: Kein Zeuge darf überleben – Der Genozid in Ruanda, Human Rights Watch/Fédération Internationale des Ligues des Droits de l’Homme, Hamburger Edition, Hamburg 2002, www.his-online.de
Siehe Rezension: imbuto.net



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