Die Reise - August 2003

Die Reise – August 2003

Wiederentdeckung der Kindheit – Abschied von der Familie


Im April 1994 hat Grace im Alter von neun Jahren den Ort verlassen, in dem sie geboren wurde. Nun kehrt sie nach mehr als neun Jahren zum ersten Mal wieder dorthin zurück. Eine Schwester lebte zum Zeitpunkt des Genozids in Europa, die Eltern und vier Geschwister, viele Verwandte und Nachbarn wurden im April 1994 ermordet. Sie will alles genau wissen.
Nach sechsstündiger Fahrt kommen wir am Nachmittag an. An der Straße warten mehrere Personen, eine Tante, das frühere Kindermädchen und einige andere. Wir werden mit Süßkartoffeln und Getränken im Haus von Jeanne begrüßt. Grace entdeckt über der Tür einen religiösen Spruch: „Das hing früher in unserem Haus.“ „Ja, das stimmt.“ Wir fahren einige Kilometer weiter.



Der erste Halt ist eine kleine Kirche. Hier haben sich im April 1994 viele Menschen versteckt. Auch der Vater von Grace und zwei ihrer Brüder haben hier Zuflucht gesucht. Alle haben seit Tagen nichts gegessen. Geschwächt, kommt der Bruder aus der Sakristei. Mitten in der Kirche bricht er zusammen, die Milizen, die in die Kirche eingedrungen sind, schlagen ihm mit einem Holzknüppel auf den Kopf. Er stirbt. Eine Person, die ihn kannte, hat ihn nach einigen Tagen gleich neben der Kirche begraben. Später ist er dann umgebettet worden. Der Vater wird von den Milizen mitgenommen, der Bruder konnte fliehen.
Viele wurden auf der Flucht ermordet, manche haben für eine Kugel bezahlt, um nicht mit der Machete oder dem Nägelbespickten Holzknüppel erschlagen zu werden.

Wir fahren weiter, Richtung Wohnhaus. Grace fragt immer wieder: „Wie wurden sie ermordet? Haben sie noch etwas gesagt? Wer hat was getan?“ Unterwegs halten wir an, Jeanne und die Tante erzählen: „Hier vor diesem Strauch wurde dein Vater ermordet. Er hat kurz vor seinem Tod noch erfahren, dass du überlebt hast, und er war sehr froh darüber. Bevor er starb, hat er noch gebetet.“

Wir bleiben längere Zeit schweigend vor dem Strauch stehen. Grace streichelt die kargen Äste. Dann geht es weiter, entlang der kurvigen Piste, eine wunderschöne Landschaft, recht wenig bewohnt. Man sieht kaum Wohnhäuser, aber man muss wissen, dass überall dort, wo man Bananenhaine sieht, im April 1994 Wohnhäuser standen, die zerstört wurden. Erst dann kann man verstehen, wie viele Menschen hier ermordet wurden oder geflüchtet sind.

Überall, wo das Grün heller ist, standen einmal Wohnhäuser.



Grace steht hinten auf dem Pick-up, sie schaut und schaut. Wenige Menschen kommen uns entgegen, die meisten rufen »Cadette«, winken ihr zu. »Cadette«, die Jüngste, so wurde sie immer zu Hause gerufen. Jetzt, nach neun Jahren, erkennen viele in der jungen Frau das kleine Mädchen von 1994 wieder.

Und dann kommen wir an, das Auto bleibt stehen. Wir gehen zu Fuß weiter.
Wir treffen den Wächter, der sich weiterhin seit vielen Jahren um das Anwesen kümmert. Grace erläutert: „Dies waren unsere Felder. Dort wohnen die Nachbarn, die uns verraten haben.“ – nur einen Steinwurf entfernt. Der Schuldige ist inzwischen tot.

Manchmal fragt sie Personen: „Hast Du auch gemordet? Warst Du dabei?“ Die Begleiter erläutern, dass dies nicht der Fall sei.
Dann kommen wir an den Ort, an dem das Wohnhaus stand, außer einem kleinen Stück der Außenmauer ist nichts vom Haus übrig geblieben. Alles ist zerstört, dem Erdboden gleich gemacht. Fassungslos sind wir alle. „Dort war ein Vorgarten mit schönen Blumen, hier stand ein Kamin, dort ist der Baum, unter dem mein Vater immer gesessen hat.“

„Als in Rwanda der Völkermord begann, haben wir uns nachts bei anderen Leuten versteckt, tagsüber kamen wir in unser Haus zurück. Hier unter diesem Baum waren wir versammelt, als mein Bruder, der auf dem Baum saß, die Milizen gesehen hat. Da sind wir alle geflüchtet und haben uns in einem kleinen Haus ganz in der Nähe versteckt.

Mein Vater hatte gesagt, sie werden die Männer umbringen, aber nicht die Frauen und Kinder. So hat er gedacht.
Mein Bruder hatte sich bei der Großmutter versteckt. Doch die Milizen kamen und haben ihn gesucht. Die Großmutter trat hinaus und sagte: „Bringt mich um, mein Enkel ist nicht hier.“ Da ist der Enkel herausgekommen, weil er nicht wollte, dass seine Großmutter ermordet wird. Da haben sie beide umgebracht, meine Großmutter war 82 Jahre, mein Bruder 17 Jahre alt.“



Grace streichelt das Grab, den Stein, lange verweilt sie dort – die Zeit steht still, wir stehen alle außerhalb der Gegenwart. Wie kann ein Mensch soviel Schmerz aushalten? Sie nimmt Abschied zwischen den Gräbern des Vaters und des Bruders. Danach verabschiedet sie sich von der Großmutter.

Wir gehen weiter Richtung Tal und bleiben vor einem großen Bananenhain stehen: „Dorthin sind wir gelaufen, wir alle, die Familie, die Verwandten, Nachbarn, und dann kamen die Soldaten und Milizen, standen genau hier. Sie waren etwa 15 Personen. Sie haben uns befohlen, uns hinzulegen, und sie haben auf uns geschossen. Ich habe nur noch das Pfeifen der Kugeln gehört und nichts mehr wahrgenommen. Irgendwie hat mich keine Kugel erwischt. Als ich wieder zu mir kam, war überall um mich herum Blut, meine Schwester lag neben mir. Sie lebte noch und sagte: ‘Pass auf dich auf, ich verlasse dich. Dann starb sie.’ “
„Einige Personen lebten noch. Als die Soldaten weg waren, haben uns Leute geholt und in ein Lager gebracht, dort habe ich am 15. April erfahren, dass auch mein Vater und die beiden Brüder tot waren. Wo der Körper meines anderen Bruders ist, weiß ich nicht.“

Nach vielen Stunden fahren wir weiter, besuchen die Tante. Sie ist erst vor einem Jahr wieder an den Heimatort zurückkehrt, aber nicht mehr dorthin, wo ihr Wohnhaus stand. Wir erzählen noch eine Weile und viele, viele Menschen kommen, um »Cadette« zu begrüßen. Am Abend geht es weiter in die Provinzstadt. Grace erinnert die Straße an die Flucht nach Bukavu im ehemaligen Zaire. Am nächsten Morgen kehren wir nochmals zu den Gräbern zurück. Grace verabschiedet sich von der Mutter, dem Vater, den Geschwistern und der Großmutter. Viele Menschen winken ihr zu.



Zum Seitenanfang